Industrie 4.0 als Vision, M2M als gelebte Realität

IT DIRECTOR, Juli 2014


Industrie 4.0 als Vision, M2M als gelebte Realität

Machine-to-Machine: Interview mit Bettina Horster, Eco-Verband

 

Interview mit Dr. Bettina Horster, Direktorin Mobile im Eco – Verband der deutschen Internetwirtschaft e. V., über Machine-to-Machine (M2M) als der bodenständige Teil von Industrie 4.0 sowie die bedeutende Rolle mobiler Devices und Wearables für das Internet of Things

Bettina Horster, Direktorin Mobile im Eco – Verband der deutschen Internetwirtschaft e. V.

IT-DIRECTOR: Frau Horster, was steckt hinter dem Begriff „Industrie 4.0“? Handelt es sich um eine weitere Marketingphrase der IT-Branche?
B. Horster: Der Begriff ist natürlich eine schön griffige Formel für das Marketing, es steckt aber auch viel dahinter. Letztlich geht es darum, Hardware und Software miteinander zu verbinden, also Maschinen, IKT und Prozesse zu vernetzen, um den Kunden individuellere Lösungen anbieten zu können. Das Ziel besteht bereits seit den 80er-Jahren. Doch erst jetzt ist die IT schnell genug und die Datenverbindungen verfügen über ausreichend Kapazität, um diese Vision umsetzen zu können.

IT-DIRECTOR: Geht es bei Industrie 4.0 allein um die Ausstattung von Maschinen mit IP-Adressen? Oder inwieweit findet in diesem Zusammenhang eine Umwälzung innerhalb der Fertigungsprozesse von Industriebetrieben statt?
B. Horster: Die Ausstattung der Maschinen mit IP-Adressen ist eine wichtige Voraussetzung, sie ist aber nicht der Punkt, um den es geht. Es geht vielmehr darum, Maschinen miteinander zu synchronisieren, sodass zum Beispiel Fertigungsabläufe in der Industrie oder Abläufe in der Logistik oder in der Landwirtschaft möglichst perfekt aufeinander abgestimmt sind. So lässt sich beispielsweise ein Leerlauf einer Maschine wegen Wartezeiten auf eine andere vermeiden.

IT-DIRECTOR: Welche Vorteile können sich die Anwenderunternehmen von Industrie-4.0-Einsatzszenarien respektive M2M-Technologien versprechen?
B. Horster: Industrie 4.0 oder auch Internet of Things ist zurzeit noch eine große Vision. Demgegenüber ist M2M der bodenständige Teil, der heute schon möglich ist. Kurz gesagt geht es darum, Prozesse zu überwachen, zu steuern und zu dokumentieren. Dazu werden Betriebsdaten für die Dokumentation erfasst, Maschinen gesteuert und Prozesse synchronisiert. Beispielsweise können Verschleißteile durch Sensorik überwacht werden, sodass sich im Voraus erkennen lässt, welches Teil bald kaputtgehen wird. Verschlissene Ersatzteile können so frühzeitig erfasst und ausgetauscht werden, ohne dass Maschinenstillstände entstehen, Softwareupdates können durchgeführt werden, ohne dass ein Servicetechniker hinfahren muss. Insgesamt wird so das Arbeiten effizienter gestaltet, die Auslastung und die Qualität verbessern sich und es wird kostengünstiger.

IT-DIRECTOR: Welche Rolle spielt der Einsatz mobiler Devices innerhalb moderner Industrieprozesse? Können Sie uns bitte ein kurzes Einsatzszenario beschreiben?
B. Horster: Neben mobilen Devices sind es auch Daten im stationären Bereich, an die man hier denken muss. Wenn ein Maschinenbauer seine Maschine beim Kunden fernüberwachen möchte, gefällt das vielen Kunden gar nicht, da sie ihre Firmennetze hierfür nicht zur Verfügung stellen möchten. Gerade bei international tätigen Unternehmen greift die sogenannte SOX-Compliance, die eine Nachweispflicht beinhaltet, wer was auf den firmeninternen Netzen gemacht hat, um Missbrauch vorzubeugen. Das gilt sowohl für den stationären als auch den mobilen Einsatz. Es gibt aber auch viele Maschinen, die in einem mobilen Umfeld betrieben werden. Ein Beispiel für ein solches Einsatzszenarium ist der Ernteprozess in der modernen Landwirtschaft. Hier hat die Korntankschnecke einen Sensor. Wenn sie zu drei Vierteln voll ist, geht eine Meldung an das Überladefahrzeug, das dann die Ladung übernimmt und sie zum Straßenfahrzeug bringt, das ebenfalls informiert wurde und schon bereitsteht.

IT-DIRECTOR: Welche Einsatzmöglichkeiten sind für neue Endgeräte wie Wearables oder Datenbrillen denkbar?
B. Horster: Wearables lassen sich gut in Lägern einsetzen. Die Picker, die die Konfektionierung machen, haben so immer beide Hände frei. Auch mit den Datenbrillen kann man Mitarbeitern helfen und zum Beispiel in der Konfektionierung den Mitarbeiter leiten, wohin er muss und wie genau er dorthin kommt. Die Mitarbeiter können freihändig und papierlos arbeiten und bekommen die Daten sehr zeitnah geliefert. Beim Servicetechniker zeigt die Datenbrille an, wohin bei diesem Modell der Maschine die Schraube gehört. Ein eingeblendeter Pfeil weist den Weg in die richtige Öffnung – die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt verschwimmen.

IT-DIRECTOR: Und welche Bedeutung besitzen Softwaretechnologien wie Big-Data-Analysen im Industrie-4.0-Umfeld?
B. Horster: Big Data spielt eine sehr große Rolle. Schon jetzt ist es so, dass normale PKWs über etwa 100 Sensoren verfügen, die Daten liefern, die dann auch aufgezeichnet werden. Diese Daten müssen ausgewertet werden. Wenn ein Betrieb nun 100.000 Maschinen überwacht, kann ein Petabyte zusammenkommen. So eine Datenflut ist mit herkömmlichen Auswertungsmethoden nicht mehr zu bewältigen. Es geht bei Big Data immer um die Analyse der Daten. So können beispielsweise bestimmte Muster bei Fehlern erkannt werden, die in gewissen Situationen entstehen. Damit kann man Verbesserungen für die Zukunft erreichen. Zum Beispiel tritt ein bestimmter Fehler immer dann auf, wenn die Temperatur unter einen bestimmten Punkt fällt. Solche Muster können von den Big-Data-Analysetools gut ermittelt werden.

IT-DIRECTOR: Welches sind die größten Risiken bei der Anwendung dieser Technologien?
B. Horster: Es gibt einige Risiken. Der Mitarbeiter wird gläsern, im Logistikbereich beispielweise lassen sich Extrapausen, Umwege für private Erledigungen oder nicht abgestimmte Arbeitszeiten ermitteln, indem das Fahrzeug überwacht wird und zum einzelnen Mitarbeiter zurückverfolgt werden kann. Die Einhaltung des Datenschutzes ist dabei ganz schwierig. Ein anderes Problem könnte entstehen, indem aus Unachtsamkeit fehlerhafte Software-Updates die Maschine kompromittieren. Auch können Daten der Maschine abgehört werden und so wichtige Informationen über Kunden oder Produkt-Know-how gewonnen werden. Dies geht dann in den Bereich der Industriespionage. Dann kann es auch zu Manipulationen der Maschinen kommen, indem die Maschinen so gesteuert werden, dass sie kaputtgehen oder dass Aufträge nicht erfüllt werden können.

IT-DIRECTOR: Worauf sollte man unter Sicherheitsaspekten bei der Vernetzung sämtlicher Maschinen und Fertigungsprozesse vor allem achten? Wie können Sicherheitsangriffe bereits im Keim erstickt werden?
B. Horster: Die Sicherheit ist sehr wichtig und muss schon bei der Konzeption der Systeme mitgedacht werden. Dabei ist es sehr wichtig, Mechanismen einzubauen, die sicherstellen, dass nur berechtigte Personen Zugang zu den Systemen und den Daten haben.

IT-DIRECTOR: Wie kann die nahtlose Anbindung von „Industrie 4.0“ an die im Unternehmen vorhandenen (Alt-)Systeme gewährleistet werden? Auf welche Standards kommt es in diesem Zusammenhang an?
B. Horster: Meist werden dazu alte Maschinen und Fahrzeuge durch Zusatzgeräte aufgerüstet, zum Beispiel werden Module nachträglich auf die CAN-Bus-Schnittstelle gesteckt. Diese geben dann weiter, über wie viel Benzin das Fahrzeug noch verfügt, wo es sich befindet und wie hoch die Durchschnittsgeschwindigkeit seit der letzten Tankfüllung war. Man nennt so etwas Retrofit. Diese Module kommen meistens mit einem wesentlich geringeren Funktionsumfang daher, da sie sich mit den schon bestehenden Schnittstellen begnügen müssen.

IT-DIRECTOR: Inwieweit entsprechen insbesondere aktuell verfügbare ERP-Systeme den neuen Anforderungen der Industrie? Wo besteht seitens der Anbieter der größte Nachholbedarf?
B. Horster: Alle großen Anbieter nehmen das Thema sehr wichtig und sind in dem Bereich aktiv. Eine große Herausforderung dabei ist es, dass es noch so wenige Branchenstandards gibt. Momentan befindet man sich in einem embryonalen Zustand und es gibt noch eine ganze Menge zu tun. Aber es bewegt sich was und die Anbieter arbeiten an neuen Lösungen.


Quelle: IT-DIRECTOR